Sweet Bones Melody
Das Orchesterwerk Mannequin – Tableaux vivants für Orchester ist das erste Werk der Komponistin Unsuk Chin, das sich auf den Tanz bezieht. „Man könnte es mit einer ‚imaginären Choreographie‘ vergleichen, denn es spiegelt die Faszination für das Bewegungspotenzial des menschlichen Körpers und seine Ausdrucksmöglichkeiten wider, wobei der Schwerpunkt auf einer energiegeladenen Körperlichkeit liegt. Es ist eine hochgradig gestische Musik, die zum Tanzen gedacht ist, aber sozusagen ‚ohne Füße‘; eine besondere Inspiration kam von dem Streben der großen Choreographen und Tänzer, das Unmögliche möglich erscheinen zu lassen, sich über die natürlichen physikalischen Gesetze hinwegzusetzen, kurz gesagt: ihre Fähigkeit, die Wahrnehmung von Zeit und Raum in Frage zu stellen. Das Werk hat keinerlei Bezug zu den kodifizierten Strukturen des klassischen Balletts; stattdessen erforscht es extreme Kontraste von Farbe, Geschwindigkeit und Gestik mit einer ständigen Spannung zwischen den Kräften“, so schreibt Maris Gothóni 2015 im Programmheft der Uraufführung zu Unsuk Chins Komposition.
Als Marco Goecke die Komposition hörte und sich dafür entschied, sie für seine Kreation am Bayerischen Staatsballett zu verwenden, wusste er von ihrer expliziten Verbindung mit dem Tanz noch nichts. Goecke hatte bereits in seinem abendfüllenden Werk Der Liebhaber nach Marguerite Duras zu Musik von Unsuk Chin choreographiert und suchte deswegen nach anderen Klängen aus ihrer Feder: „Die Musik ist mir nah in ihrer Detailversessenheit, wenn ich das so sagen darf. Die vielen Splitter sind wie die Splitter in meiner Bewegung.“
Keine Rolle spielt für den Choreographen hingegen die literarische Inspirationsquelle von Mannequin, E. T. A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann. Was ihn neben den unzähligen Details interessiert und was sein Tanz und die Musik dieser Komponistin gemeinsam haben, ist eine völlig eigene künstlerische Sprache, welche einerseits Momente aufweist, in der jedes Detail einer Bewegung beziehungsweise einer Melodie sichtbar und wichtig ist, andererseits aber auch durch die Bewegungen einer Gruppe oder verschiedenste musikalische Stimmen ein komplexes Bewegungsgeflecht oder einen subtilen Klangteppich generieren. In solchen Passagen kommt es beiden, Choreograph und Komponistin, nicht auf den einzelnen Splitter, auf das sicht- oder hörbare Fragment, sondern auf die Gesamtatmosphäre an und auf das Gefühl, das durch den visuellen beziehungsweise auditiven Gesamteindruck transportiert wird. Wenn zum Beispiel Giovanni Tombacco das erste Solo zu Beginn des Stücks zu einem Teppich aus Celesta, Harfe, Vibraphon und Glockenspiel sowie besonderen Schlaginstrumenten wie Teile von Rad- und Sesselfedern sowie einer Angelrolle zu tanzen beginnt, dann fühlt man sich augenblicklich in eine ferne, unheimliche Traumwelt versetzt. Der Dirigent Tom Seligman sagt über die starken Kontraste und Stimmungswechsel in der Musik: „Es braucht eine Choreographie, die die Temperatur, den Zustand versteht. Sie wirkt oft kalt, plötzlich sehr sehr heiß, aktiv, aggressiv, athletisch.“
Goecke ist ein Meister darin, mit seiner Sprache durch die Tänzer Gefühle zu transportieren, die beim Zuschauer unmittelbar ankommen. Und das nicht nur, wenn beispielsweise der eine Tänzer den anderen direkt und brutal eng an den Hals fasst, wodurch ein starkes, bekanntes und für den Zuschauer unmittelbar lesbares Bild des Strangulierens entsteht. Sondern auch dann, wenn ein anderer Tänzer ein Solo tanzt, das aus unzähligen kleinen, scheinbar nicht konnotierten Bewegungen konstruiert ist, aber als Gesamtes dennoch eine eindrucksvolle Emotionalität transportiert, weil der Tänzer etwas denkt und fühlt.
Goeckes Tanz ist so stark, dass er kein aufwendiges Bühnenbild braucht: Wenige Requisiten – wie Staub und schwarzer Schnee – reichen ihm aus. Auch die Kostüme – schwarze Bundfaltenhosen mit klassischen T-Shirts, die auf den zweiten Blick aber doch raffinierte Applikationen aufweisen – reflektieren die Eigenschaft dieses Tanzes, auch beim wiederholten Zuschauen immer wieder neue Details sichtbar werden zu lassen. Und obwohl viele seiner Bewegungen rasant, kantig und knochenhart sind, vermutet Goecke selbst dahinter eine versöhnliche Melodie. Sweet Bones‘ Melody.
Daten
UA 26.03.2022,
Bayerisches Staatsballett München
Fotos
Trailer
Publikation

Dark Matter (2016)
Choreografien von Marco Goecke
Hg./Ed. Nadja Kadel
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