Bach-Kreationen
Nach Scholz’ Air! für Stuttgart und zwei weiteren Arbeiten 1983/84 sind die Bach-Kreationen seine vorletzte zentrale Auseinandersetzung mit dem Universum Bachscher Musik. Das Brandenburgische Konzert Nr. 3, G-Dur (BWV 1048), gilt heute als das meistgespielte der sechs Concerti grossi; es entstand nach 1714 einzig für Streicher, hat anstelle eines langsamen Satzes nur zwei Adagioakkorde und endet mit einer stilisierten Gigue. Bei Scholz wird daraus musikfühliges Formenspiel filigraner Körper, die dem neoklassischen Tanz sein eigenes Tempo geben. Zu der wohl 1730 geschriebenen Solokantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ (BWV 51), einer von Bachs bekanntesten, konfrontiert der Choreograf die zwischen Schmerz und Ekstase pendelnden Gefühle einer Frau in ihrem Aufbegehren. Vermutlich 1714 datiert die geistliche Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ (BWV 21) mit ihrer düster bedrückenden Grundstimmung, die im zweiten Teil der Erlösungsfreude weicht. Scholz pariert den Text mit einer eigenständigen, vieldeutigen Bilderwelt: Aus einem menschlichen „Kelch“ steigt die Solistin auf, um von ihrem Partner wie ein Fisch oder eine weiße Taube, beides christliche Symbole, durch den Äther gewirbelt zu werden. Ohne vordergründig spektakuläre Effekte gliedert sich der Tanz als zusätzliches „Instrument“ Bachs Gottesjubel ein. Den Schlusschor vom Lamm, das erwürgt wird, nutzte Scholz bei der Premiere zu einem Protest gegen drohende Stellenkürzungen: Einzeln stapelten die Tänzer an der Rampe ihre Schuhe zuhauf. Als er jenes Kernstück des Abends im Mai 2001 mit Bachs Missa h-Moll (BWV 232/I), Urform der späteren h-Moll-Messe, zu Gloria in excelsis Deo verfugte, ließ er diesen Chor ganz fort und gastierte mit diesem Zweiteiler auch in Stuttgart. Die Bach-Kreationen liefen bei den Potsdamer Musikfestpielen als beeindruckende Freilichtaufführung, dort allerdings mit dem Brandenburgischen Konzert als Mittelteil. Als singuläre Aktion aus Ballett, Gewandhausorchester, Sängertrio und links aus dem Orchester auf steilem Podest aufragendem Thomanerchor, alles unter dem Dirigat von Georg Christoph Biller, zählen die Bach-Kreationen zu den herausragenden Schöpfungen des auf der Höhe seiner Leistung schaffenden Spiritus rector Uwe Scholz.
Daten
Musik/music: Johann Sebastian Bach
(I) Brandenburgisches Konzert Nr. 3 G-Dur (BWV 1048)
(II) Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ (BWV 51)
(III) Kantate „Ich hatte viel Bekümmernis“ (BWV 21)
UA/world premiere: 4. Mai 1996, Leipziger Ballett
Länge/duration: 80 Min.
Gesamtzahl der Tänzer/total number of dancers: 36, (I) 12, (II) 14, (III) 30
Rollen/characters: 7 Solisten/7 soloists; Corps de Ballet
Tänzer der UA/original cast: Christoph Böhm, Joan Boix, Damien Diaz, Roser Muñoz, Sibylle Naundorf, Marina Otto, Lara Radda
Bühne und Kostüme/stage and costume design: Uwe Scholz