Die Große Messe
Ob Mozarts Freude über die Heirat 1782 mit seiner Constanze den Anlass für die Missa c-Moll bot, ist nicht belegt. Fest steht indes ihr Torsozustand: Teile des „Credo“ sowie das gesamte „Agnus Dei“ fehlen. Dennoch haben Spätere ihr den Namen „Die Große Messe“ verliehen, auch, um ihre Bedeutung zu würdigen. Scholz komplettiert sie, in dem er an der Stelle, an der das „Agnus Dei“ kommen müsste, die Musik des „Kyrie“ wiederholt, dieses aber nicht tanzen lässt. Den Ehrentitel der Missa reklamiert er zwar für sein ohne Pause durchlaufendes Ballett, weiß allerdings als Kind des leidvollen 20. Jahrhunderts auch um die Bedrängnisse und Versuchungen des Menschen, um Kriege, Katastrophen, Egoismen und Antagonismen. Gläubige Zuversicht zu gestalten, wie sie die dunklen Seiten der Seele verstehend und verzeihend einbegreift, mag er sich als Aufgabe gestellt haben. Beides stellt er auf die Bühne, mit handfestem Kontrast, um der Gefahr eines christlichen Jubelballetts von lichter Helle gegenzusteuern. Gegenwartskomponisten bringen den notwendigen zerquälten Gestus ein: Thomas Jahn zwei Teile (nach Gedichten von Bernhard Laux und Catull) seines Zyklus „Orte und Zeiten – tempi e luoghi“ für vier Instrumentalsolisten; György Kurtág Teile aus „Játékok“ und seinen „Bach-Transkriptionen“; Arvo Pärt sein „Credo“ für Klaviersolo, Chor und Orchester. Und mit dem deutsch-jüdischen Lyriker Paul Celan ruft Scholz einen Zeitzeugen an, der selbst am Schmerz seines Erlebens gescheitert ist. Werden die Musiken Mozarts live musiziert, laufen die übrigen Teile vom Band. Sie alle indes verbinden sich mit Bildern voller Dramatik, getanzt von Barfuß bis Spitze, zu einem eindringlichen Panorama zwischen menschlichem Leiden und Hoffen, wie es die Zeiten überspannt und das Werk damit ins Zeitlose erhebt. Als sein eigener Bühnenbildner verzichtet Scholz auf Dekorationen und hebt das Geschehen aus dem dunkel Ungefähren der Szene nur durch einen „Tempel“ aus Licht heraus. Scholz hatte im Vorfeld geäußert, kaum getraue er sich der Musik Mozarts noch zu nähern, doch mit Gewandhausorchester, Chor, Sängerquartett und „seinem“ Leipziger Ballett standen ihm würdige Künstler bei der Uraufführung zur Seite.
Daten
Musik/music: Gregorianische Choräle (Introitus, Credo); Wolfgang Amadeus Mozart, Messe c-Moll (KV 427), Adagio und Fuge c-Moll (KV 546), Ave verum corpus (KV 618); Thomas Jahn, Orte und Zeiten – tempi e luoghi; György Kurtág, Játékok, Bach-Transkriptionen; Arvo Pärt, Credo
UA/world premiere: 14. Februar 1998, Leipziger Ballett
Länge/duration: 125 Min.
Gesamtzahl der Tänzer/total number of dancers: 52
Rollen/characters: 4 Solisten/4 soloists; weitere Soloparts/further solo parts; Corps de Ballet
Tänzer der UA/original cast: Christoph Böhm, Roser Muñoz, Sibylle Naundorf, Mario Schröder
Bühne und Kostüme/stage and costume design: Uwe Scholz
Fotos
Trailer
Publikation

Zeitsprünge - Leaps in Time (2013)
Werke von Uwe Scholz
Hg. Nadja Kadel/Kati Burchart
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