Carmen-Premiere am 7. November 2009 um 19.30 am Theater Dortmund
Carmen neu gelesen
Foto von Bettina Stoess: www.moving-moments.de
Nach seinem Dortmunder Debüt in der Spielzeit 2008/09 hat der katalanische Choreograph Cayetano Soto für diese Spielzeit ein Carmen-Ballett geschaffen. Es ist natürlich kein Zufall, dass sich ein Spanier diesem spanischsten aller Bühnenstoffe zuwendet. Doch hat diese nur auf den ersten Blick evidente Verbindung bei genauerem Hinsehen durchaus ihre problematischen Seiten. Ist doch die Geschichte von der schönen andalusischen Zigeunerin Carmen weniger spanisch, als man meint: Die aus dem Jahr 1845 stammende literarische Vorlage ist das Werk des französischen Schriftstellers Prosper Mérimée. Und es war wiederum ein Franzose, der den Stoff drei Jahrzehnte später weltberühmt gemacht hat, Georges Bizet mit seiner Opéra comique „Carmen“. Diese und zahlreiche spätere Rezeptionen und Adaptionen der in die Mythologie des Geschlechterkampfes gehörenden Geschichte zeugen vom Erfolg von Mérimées Novelle und beweisen, dass sich der Stoff bestens für einen Transfer in alle Kulturen und historischen Kontexte eignet. Ähnliches gilt im Übrigen auch für Bizets Musik: Ein Beispiel dafür ist etwa die Kondensation der Opernmusik in eine kürzere Orchestersuite durch den russischen Komponisten Rodion Shchedrin (1967). Auf sie stützen sich die meisten modernen Tanzfassungen, und auch Soto legt sie seiner Interpretation zugrunde. Der Carmen-Stoff hat somit von Anfang an den Charakter eines Hybrids und hat so viele Metamorphosen durchlaufen, dass von etwas authentisch Spanischem nicht mehr die Rede sein kann. Für einen spanischen Choreographen bedeutet dies eine besondere Herausforderung.
„Carmen“ erscheint geradezu als Musterbeispiel dafür, wie ein Werk durch die Form der Aufführungspraxis und der Rezeption umgedeutet werden kann. Die komplexen Rezeptionswege sind allerdings schon in der Struktur der Novelle angelegt. Während das Libretto von Bizets Oper den Stoff auf eine für seine Zeit zwar kühne, aber eindimensionale Geschichte um fatale Liebe und die Spannung zwischen männlichem Besitzanspruch und weiblichen Freiheitsdrang reduziert, stellt sich die Erzählsituation der Novelle wesentlich vielschichtiger dar. Ihr Hauptkennzeichen ist die Einbettung des tragischen Geschehens in eine Rahmenhandlung, in der ein eigentlich an archäologischen Grabungen in Spanien interessierter Ich-Erzähler zufällig und zeitlich versetzt die beiden Hauptfiguren, den Basken Don José und die Zigeunerin Carmen, kennen lernt. Erst am Ende, bei seiner letzten Begegnung mit dem auf seine Hinrichtung wartenden Don José, erfährt er aus dessen Mund den gesamten Hergang der Geschichte. Der Anspruch der wissenschaftlichen Distanziertheit des Erzählers wird noch einmal dadurch unterstrichen, dass die Novelle mit einer kleinen Abhandlung über die Zigeunersprache endet. Es handelt sich also um ein sehr komplexes narratives Verfahren, das mindestens drei Ebenen ineinander verschachtelt: die des Wissenschaftlers und Ich-Erzählers der Rahmenhandlung, die der Retrospektive des zweiten Erzählers, Don José, und die der eigentlichen Protagonisten, in deren Handeln der Erzähler der Rahmenhandlung aber wiederum mehrmals direkt eingreift.
Eine Deutung, die von dieser narrativen Struktur ausgeht, kann sich also nicht damit zufrieden geben, einfach nur den Mythos der Carmen zum wiederholten Male nachzutanzen. Soto hat sich gerade deshalb von Merimée dazu inspirieren lassen, die Gemachtheit und Hybridität des Mythos zur Anschauung zu bringen. Zwar folgt die Handlung seines Balletts auch den bekannten Stationen: Zu sehen sind etwa die Begegnung des Soldaten Don José mit Carmen in Sevilla, die Wachablösung, der Streit Carmens mit anderen Arbeiterinnen in der Zigarrenfabrik, Carmens Verhaftung durch Don José, ihre von ihm gebilligte Flucht und seine Degradierung, die leidenschaftliche Liebe des Paares, Don Josés Morden aus Eifersucht, das Schmugglerleben, Carmens Affäre mit dem Torero Lucas, Don Josés Eifersucht und schließlich sein Mord an Carmen. Doch Soto lässt auch die Rahmenhandlung zu ihrem Recht kommen, indem er den Erzähler – Mérimée – als weitere Hauptfigur einführt. Dessen in der Novelle letztes Gespräch mit Don José eröffnet das Ballett. Später lernt der Erzähler auch Carmen kennen und lässt sich von ihr die Karten legen. Kurz vor dem Ende interveniert er ein weiteres Mal, wie um den tödlichen Ausgang des Konflikts noch abzuwenden. Dies ist eine Lesart, die über Mérimées Vorlage noch hinaus geht. Doch der Versuch des Erzählers ist vergeblich, denn es zeigt sich, dass auch er letztlich keine Chance hat gegen das Schicksal, das die Figuren, die er doch selbst erfunden hat, fest im Griff hält.
Die Mehrdimensionalität des Carmen-Stoffs, auf die Sotos Version Bezug nimmt, findet ihre Entsprechung sowohl im Bühnenbild als auch in der musikalischen Gestaltung. Shchedrins vom Dortmunder Orchester gespielte Carmen-Suite wird mit anderen musikalischen Elementen zu einer Collage verbunden. Neben französischen und spanischen Chansons des 20. Jahrhunderts werden insbesondere Originalaufnahmen von Geräuschen aus Flamenco-Proben des Ballet Nacional de España integriert. Es geht auch hier nicht darum, eine originale ‚Hispanizität’ wiederherzustellen. Vielmehr soll auch auf musikalischer Ebene die Spannung zwischen dem stets flüchtigen, ursprünglich ‚Spanischen’ und seinen nie authentischen Rezeptionsformen vorgeführt werden. Konsequenterweise verzichten auch die Kostüme auf eine folkloristische Rekonstruktion von spanischem Pathos, spielen allerdings durchaus auf iberische Kleiderformen an. Die Entwürfe stammen aus der Haute Couture, nämlich von den Münchner Modedesignern TalbotRunhof.
Die Tatsache, dass die Musik stellenweise von Geräuschen aus dem Flamencotanz unterbrochen wird, bedeutet nicht, dass Sotos choreographischer Stil vom Flamenco beeinflusst ist. Er hat sich in seiner Carmen zwar einige Anspielungen auf den traditionellen spanischen Tanz nicht nehmen lassen, doch die Basis seiner Bewegungssprache ist das klassische Ballett. Dessen Kanon wird jedoch häufig von geflexten und einwärts gedrehten Füßen und von wellenförmigen Bewegungen der Oberkörper modifiziert. Vor allem die Pas de Deux sind technisch sehr anspruchsvoll, verlangen schnelle und ungewöhnliche, manchmal geradezu akrobatische Bewegungen. Diese „Carmen“ fordert den Tänzern alles ab.
Nadja Kadel
(03.11.2009)