Blushing
„Blushing“, erklärt Marco Goecke, „heißt ‚rot werden‘. Mein Ausgangspunkt war zu untersuchen, was in einem Menschen vorgeht, wenn er rot wird. Ich gehe bei meinen Arbeiten von einzelnen Phänomenen aus wie einem Wort, einer Bewegung.“ So beschreibt der Choreograf das Stück, das am Beginn seiner internationalen Karriere steht.
2003 hat Goecke das Stück für die Stuttgarter Noverre-Gesellschaft und Tänzer des Stuttgarter Balletts geschaffen. Doch bereits bevor es dort aufgeführt wurde, gewann er mit „Blushing“ den ersten Preis des internationalen choreografischen Wettbewerbs „Prix Dom Pérignon“ in Hamburg. Mit vier Tänzerinnen und vier Tänzern aus Stuttgart war er nach Hamburg gereist, wo eine Jury – zu deren Mitgliedern unter anderem die russische Ballettlegende Natalia Makarova gehörte – sich nach langen Diskussionen für dieses unkonventionelle Stück entschied. Heute ist Goeckes Bewegungssprache so etabliert, dass der deutsche Tanzkritiker Horst Koegler von einem „Système Goeckien“ sprach. 2003 hingegen war es eine große Überraschung, dass eine Jury, die bis dahin nicht durch eine besondere Vorliebe für die Avantgarde hervorgetreten war, ausgerechnet für „Blushing“ votierte.
Als düster wurde die Choreografie bezeichnet, beginnt sie doch mit einem schwarz gekleideten, vermummten Tänzer, der mehrfach wütend in die Luft springt. Dieser Eindruck ist kaum von der Hand zu weisen, doch zugleich erkannten die Kritiker die Virtuosität und Eigenwilligkeit einer ganz neuen Bewegungssprache, etwa wenn die Tänzer im Sitzen rhythmisch ,laufen‘, sich gegenseitig ,aufpumpen‘ oder sich nach dem Fallen immer wieder wie Stehaufmännchen aufrichten. Eine immer wiederkehrende und für „Blushing“ wohl die signifikanteste Bewegung ist eine Armführung, die so aussieht, als ob die Tänzer sich eine Pistole an den Kopf setzen und abdrücken, um danach in sich zusammenzusacken. Oder handelt es sich um eine Geste von plötzlicher Selbsterkenntnis, gefolgt von Scham (blushing!) und Resignation über das eigene Innere?
Die Klangcollage in „Blushing“ wechselt zwischen Punkrock, Straßenmusik und Stille, in der aber der Atem sowie Schlag-, Stampf- und Rutschgeräusche der Tänzer zu vernehmen sind. Anders als in späteren Choreografien gibt es kein Bühnenbild, die Bühne ist völlig leer, die Tänzer kommen aus und verschwinden in den seitlichen Gassen. Bis heute schätzt Goecke die Klarheit und Einfachheit dieser Kreation. Bei einem Stück, das ganz ohne Requisiten und Bühnenbild auskommt, konzentriert sich alles auf die künstlerische Präsenz und Überzeugungskraft der Tänzer.
N.K.
Daten
UA: 01.07.2003 Noverre-Gesellschaft mit Tänzern des Stuttgarter Ballets, Staatsoper Hamburg (Prix Dom Perignon)
Weitere Einstudierungen:
13.02.2008 Scapino Ballet Rotterdam
20.02.2016 Ballett Osnabrück
30.04.2016 Ballett Hagen