NIJINSKI - Ein Geniestreich von Marco Goecke
Ein durchschlagender Erfolg war die Premiere von Goeckes abendfüllendem "Nijinski" für Gauthier Dance am 17. Juni 2016 im Theaterhaus Stuttgart.
Foto: Regina Brocke
Eva-Elisabeth Fischer schreibt in der Süddeutschen Zeitung vom 19. Juni 2016:
“Urplötzlich und unerwartet entfährt ihm ein höllisches Lachen. Sein Mund schließt sich krankhaft schief. Dieser irritierende Moment ereignet sich im Ballettsaal, während des Trainings in der Akademie. Waslaw Nijinski, 1905 bis 1917 der unheilige Gott in Sergej Djagilews weltberühmten Ballets Russes und bis heute unerreichte Tanzlegende, Inkarnation animalischer Triebhaftigkeit als Faun auf der Bühne und nicht nur deshalb verdammtes und vergöttertes fleischgewordenes Skandalon der 1910er- Jahre, zeigt da schon psychische Ausfälle. So illustriert das Choreograf Marco Goecke in seinem faszinierenden “Nijinski”-Ballett. Da gelingen ihm immer wieder solch verstörende Aha-Momente, in denen einem als Zuschauer schlagartig ein Licht aufgeht – zum Beispiel, um zu begreifen, dass sich Nijinskis geistige Umnachtung schon sehr früh ankündigte.Goecke, wie Demis Volpi Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts, darf mitunter fremdgehen mit “Gauthier Dance”, der Stuttgarter Kompanie des Tänzers Eric Gauthier. Volpis “Salome” wurde eine Woche vor “Nijinski” im Opernhaus uraufgeführt – als in jeder Beziehung überfrachtete Ausstattungsrevue. Goecke dagegen braucht für seine Tänzerbiografie nur einen leeren, schwarz ausgeschlagenen Bühnenraum im Stuttgarter Theaterhaus. Nach einem Prolog, in dem Terpsichore, die Muse des Tanzes, sich mit der Kunst vereint, die sich dann dank des begnadeten Impresarios Djagilew epochemachend erneuert, blättert Goecke chronologisch das Leben des Tänzers auf: seine Trennung von der Mutter (Alessandra La Bella), Tänzerin auch sie, die hier burschikos, pragmatisch und dabei ungemein zärtlich den Sohn seiner Bestimmung zuführt – der Ballettakademie in St. Petersburg.
Dort entfaltet sich nicht nur sein Talent. Dort suchen ihn auch erste sexuelle Träume heim, die in der Hassliebe zu Djagilew ihre erste Erfüllung finden. Dann der Aufstieg in die elysischen Höhen des Ruhms, als Tänzer und Choreograf. Schließlich die Heirat mit der Tänzerin Romola de Pulszky und das bis 1950 währende endlose Ende: Da kauert er, am Boden manisch Kreise malend, hinter den Mauern der Psychiatrie.
Für jede Station, für jede Situation, die bruchlos ineinander übergehen, findet Marco Goecke optische Kürzel und verblüffende Chiffren. Als Ausdrucksmittel dienen ihm der Tanz und der rhythmisch-hechelnde Tänzeratem, in Maßen auch die Sprache. Djagilew, hier hochgewachsen in Gestalt von David Rodríguez, erkennt man am Kragenpelzchen seines Mantels und dem halben Schnurrbart über der Lippe; identifiziert ihn dank seiner arroganten Allüre, mit der er sich Nijinski nähert, ihn von hinten mit zwei Fächern umschwirrt. Nijinskis Bühnentriumphe reihen sich als ein Rebus ironischer Zitate: winzige Elfenflügelchen am Rücken bei “Chopiniana”. Über “Spectre de la Rose” explodiert ein Rosenblätterregen, und die Schöne, die den Rosengeist herbeiträumt, tut dies in Rückenansicht, in einem Fauteuil mit verkanteten Gliedmaßen turnend. Dann wird's finsterer als finster. Den Arzt erfährt Nijinsky tastend als leibhaftiges Spiegelbild, den Wahnsinn als ein ihn umschlingendes, nicht benennbares Etwas (Anna Sheyla Harms).
Rosario Guerra taktet in geräuschvollen Atemstößen Nijinskis atemloses Leben. Goecke arrangiert die Tänzer und Tänzerinnen in schwarzen Beintrikots und nackten beziehungsweise mit fleischfarbenen Bustiers bekleideten Oberkörpern zu beweglichen Lichtreflexen. Der Hell-Dunkel-Effekt verstärkt die Wirkung seiner sehr eigenen Tanzsprache, rhythmisch gehackte, sehr schnelle Schrittkombinationen und Gesten, jede einzelne jeweils ein Vielfaches des dazugehörigen Notenwerts. Dazu hört der Hochmusikalische die Musik auch in den Stimmungen ganz genau aus, in diesem Fall Kompositionen von Chopin und Debussy, zu denen Nijinski getanzt hat. Manchmal flattern Arme und Hände so schnell, dass sie einem als Lichtschlieren erscheinen.
Doch bei “Nijinski” achtet Marco Goecke mehr auf harmonischen Bewegungsfluss als sonst, fügt immer wieder akademische Ballettposen ein. Dank der beredten Hände und Arme erweist sich sein Tanzidiom mehr denn je als kluges erzählerisches Mittel und schafft dabei Enormes, nämlich eine überraschende Verschmelzung mit dem damals revolutionären Stil Nijikskis als Tänzer und Choreograf. Und dies mit dem subjektiv-distanzierten, sehr heutigen Blick – voller Verehrung. Frenetischer Jubel.”
(20.06.2016)