Der Tanzkritiker Hartmut Regitz schreibt über die Uraufführung von Marco Goeckes "Pierrot Lunaire"
Foto: Hans Gerritsen
Nacht muss es sein, wenn Goeckes Sterne strahlen. Für den Hauschoreografen des Stuttgarter Balletts ist das Dunkel noch immer Licht genug – und in Holland wird der Meister aus Deutschland nicht ohne Grund als Erfinder des «ballet noir» gefeiert, so eingeschwärzt sind all die Stücke, die er seit einer Reihe von Jahren als Artist in Residence für das Scapino Ballet Rotterdam erarbeitet hat. Ein «Pierrot lunaire» kommt da nicht zufällig, und in der Tat hat das Schönberg-Opus seinen Interpreten schon vor längerer Zeit nachhaltig beeindruckt. Schließlich sieht sich Goecke selbst als Dichter, und die «Dreimal sieben Gedichte» von Albert Giraud, die Arnold Schönberg vor fast genau hundert Jahren vertont hat, lassen sich bei der ersten Begegnung ebenso wenig fassen wie seine eigenen Werke.
Anders als Glen Tetley, dessen «Pierrot lunaire» seit 1962 auf dem Programm vieler Ballettkompanien steht, versucht Goecke erst gar nicht, Licht in eine Geschichte zu bringen, die Giraud im übrigen gar nicht erzählt. Er lässt vielmehr die Körper seiner Tänzer sprechen, macht sie durchlässig für das dichterische Wort, bringt sie nicht zuletzt zum Atmen (was sich am Ende aber wie ein heißeres Krächzen anhört). Mal flattern die acht wie «finstre, schwarze Riesenfalter» über die Bühne. Mal meint man unter ihnen eine «bleiche Wäscherin» zu entdecken. Allein, bevor man ihrer habhaft werden kann, verflüchtigen sie sich, als wär’ all das Theater am Ende aus dem Stoff, aus dem die Träume sind. Allein Rupert Tookey, bleichgesichtig, mit schweißnasser Brust und schwarzen Hosen, gewinnt konkretere Kontur. Doch wie benommen vom alten «Duft aus Märchenzeit», verliert er zwischenzeitlich fast den Boden unter seinen Füßen, so leichtfüßig scheint er zu tänzeln. Allein, es sind am Schluss nur ein paar Luftballons, die schwerelos entschweben oder sich zu weißen Trauben ballen.
Wie in «Bravo Charlie», mit dem das Scapino Ballet den Abend «Reischl & Goecke, choreographen» in der nicht ganz ausverkauften Rotterdamse Schouwburg eröffnet, geht Goecke unbeirrt seinen Weg. Anders als sein Kollege Georg Reischl, der sich in «(framework) 7, 8.» allenfalls als Schrittmacher beweist, nicht jedoch als Choreograf, kümmern ihn Publikumserwartungen wenig. Man mag das bedauern, weil das Dunkel eben nicht immer Licht genug ist. Aber seine Konsequenz ist manchmal schon beängstigend, und deshalb kommt sie der Komposition Arnold Schönbergs auf eine verstörende Weise nahe. Auf den abendfüllenden «Orlando», der Ende der Saison in Stuttgart folgen soll, darf man gespannt sein.
(14.02.2010)