Premiere am 19. April 2008 mit dem Leipziger Ballett
"Suite Suite Suite" heißt die neue Arbeit von Marco Goecke im Rahmen des Abends "Bach tanzt".
Marco Goecke geht das Werk von Johann Sebastian Bach auf ganz andere Weise an als Uwe Scholz oder George Balanchine. Während diese von der Bachschen Musik ausgehen und Note für Note in Tanz verwandeln, gibt bei Goecke der Tanz den Ton an. Die Dominanz des Tanzes kann man schon aus dem Titel “Suite Suite Suite” herauslesen – ein selbstironischer Rückverweis auf das Goecke-Stück “Sweet Sweet Sweet”, das seit 2005 mit großem Erfolg an vier deutschen Bühnen aufgeführt wird.
Aber natürlich bezieht sich dieser Titel auch auf die der Choreographie unterlegte Musik: den zweiten bis fünften Satz von Bachs Orchestersuite Nr. 4 D-Dur (BWV 1069). Die strenge musikalische Form von Bourrée, Gavotte, Menuett und Réjouissance geht auf die gleichnamigen französischen höfischen Tänze zurück. Bach hat während seiner Schulzeit im Lüneburger Michaeliskloster bei Thomas de la Selle Unterricht im französischen Tanz erhalten. Durch de la Selle hat er die französische Art des Musizierens aus berufener Quelle kennen gelernt, war dieser doch ein Schüler von Jean-Baptiste Lully, dem Musikmeister Ludwigs XIV. und Begründer der Königlichen Musikakademie. Dennoch hat Bach die Orchestersuiten nicht als Musik zum Tanzen komponiert. Er setzt sich in ihnen vielmehr musikalisch mit der französischen Tradition auseinander.
Im ersten Moment erscheint die Bewegungssprache Goeckes, die Kritiker hin und wieder als “zuckend” oder “flatternd” beschreiben, seinen Tänzern viel mehr Freiheit zu lassen, als sie den Akteuren barocker höfischer Tänze gegeben war. Dem ist in Wirklichkeit aber gar nicht so. Denn jeder Schritt, jede kleine Bewegung ist genau festgelegt. Die Tänzer tanzen eine genaue Partitur, die Horst Koegler, der Doyen der deutschen Tanzkritik, einmal als “Système Goeckien” bezeichnet hat.
Goecke geht es nicht darum, Musik in Schritte umzusetzen, er stellt seinen Tanz zur Musik. Das heißt aber nicht, dass das musikalische Element für ihn unwichtig wäre. So wählt er in den Proben nicht selten Worte und Bilder, die sich mehr auf Musik und Akustik beziehen als auf das Visuelle: Zu einem Tänzer sagt er “the Port de Bras should look louder”, dem Tänzer eines Pas de Deux empfiehlt er zum Umgang mit der Partnerin: “do this movement as if you played her like an instrument”.
Inspirationsquellen sind für Goecke auch einzelne Begebenheiten aus dem Leben von Johann Sebastian Bach, oftmals kleinere Ereignisse oder Tatsachen, die für die gängigen Biographien unbedeutend erscheinen. Zum Beispiel überraschen den Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts die Wegstrecken, die Bach in jungen Jahren meist nicht per Kutsche – das hätte er sich gar nicht leisten können – sondern zu Fuß zurückgelegt hat, um sich zu bewerben, Künstler zu treffen oder sich neues Wissen anzueignen: 40 Kilometer von Ohrdruf nach Eisenach und zurück, 350 Kilometer von Ohrdruf nach Lüneburg, 180 Kilometer von Lüneburg nach Celle und so weiter.
Ein anderes, letztlich fatales Ereignis für Bach war eine Augenoperation in seinem letzten Lebensjahr. Sie wurde von einem renommierten Okulisten durchgeführt, der dem armen Patienten zur Vorbereitung kochend heiße Äpfel auf die Augen legte, um die Hornhaut aufzuweichen. Anschließend wurde Bach auf einem Stuhl festgebunden und gänzlich ohne Betäubung operiert. Ziel war, die vom Star getrübte Linse zu verschieben und dann durch eine starke Brille zu ersetzen. Das gelang hier allerdings erst nach dem zweiten Versuch: Tatsächlich konnte Bach konnte wieder sehen, als er sich nach Monaten völliger Dunkelheit die Binde von den Augen riss. Doch noch am selben Tag erlitt er einen Schlaganfall und starb wenige Tage später.
Es sind solche Begebenheiten des Alltags, die für die Entstehung von Goeckes Arbeiten besondere Bedeutung bekommen. Aus dem Anekdotischen schöpft er seine Assoziationen. Nun ist es allerdings nicht so, dass diese dem Leben abgeschauten Szenen in seinen Choreographien einfach nacherzählt werden sollen. Sie werden eher dazu verwendet, um durch sparsame Anspielungen eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen, in der der Tanz seine alles beherrschende ästhetische Funktion entfalten kann. Goeckes Bewegungen sind ähnlich genau ausgearbeitet wie Bachs polyphone Sätze, aber sie behalten gegenüber der Musik ihre Autonomie. Stellenweise wird Bachs Orchestersuite sogar durch andere, auf der Bühne erzeugte Geräusche verfremdet. Nichts läge Marco Goecke ferner, als die Bachsche Musik eins zu eins zu vertanzen. Das geschieht weder im Hinblick auf den Rhythmus noch auf der Ebene der musikalischen Struktur der einzelnen Tanzsätze. Und doch gewinnt man den Eindruck, dass diese Choreographie zusammen mit der Musik eine unerhörte Synthese bildet.
(12.04.2008)