Einen Original-Goecke erkennt man sofort. Nicht umsonst ist der Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts und «assoziierte Choreograf» des Nederlands Dans Theater international enorm gefragt.
Der geborene Wuppertaler zeichnet extravagante Schritte in den Raum – und genauso außergewöhnliche Striche auf Papier. Unterhalten hat er sich darüber mit Hartmut Regitz für die Zeitschrift Tanz, Ausgabe März 2014
Zeichnung: Marco Goecke; “Das gekämmte Gesicht”. Foto: Nadja Kadel
Wie sind Sie überhaupt zum Zeichnen gekommen. War das wichtig für Sie?
Sehr. Schon als Kind. Lange vor dem Tanzen war das Zeichnen mein nächstliegendes Ausdrucksmittel. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich als Kind, als Jugendlicher nachts angefangen habe zu zeichnen und darüber die Zeit völlig vergessen habe – so, dass ich es am nächsten Morgen gar nicht mehr in die Schule geschafft habe. Auch heute ist es noch so, dass die Konzentration, der Blick auf das Blatt wie ein Sog für mich ist, man lebt für einen Moment ganz darin. Daraus aufgetaucht, fühle ich mich wahnsinnig leer, als ob ich hypnotisiert gewesen wäre – ein Gefühl, das ich so vom Choreografieren überhaupt nicht kenne, das ist eine kältere Angelegenheit. Wenn ich ein paar Stunden später wieder auf die Bilder schaue, ist da so eine große Verwunderung.
Auch ein Erschrecken?
Als wäre ich an einem anderen Ort gewesen. Ich finde das interessant, nicht zuletzt im Hinblick auf den Akt des Choreografierens. Da existiert so etwas gar nicht. Choreografieren hat für mich viel mehr mit Unterhaltung zu tun.
Mit Theater?
Mit Show. Und ich bin selbst bei einer Probe Teil einer Show, weil ich ja auch die Tänzer dabei immer auf eine lustige Art und Weise unterhalte. Wir haben viel Spaß miteinander. Da bin ich einfach so der Clown und spiele ihn manchmal auch ganz bewusst, um das zu bekommen, was ich mir vorstelle. Das Zeichnen ist dagegen ein intimer Vorgang, er hat etwas Enges, geradezu Privates. In der Probe bin ich nie privat. Der Ballettsaal ist meine Bühne.
Wissen Sie, wenn Sie nach dem Bleistift greifen, was Sie wollen? Oder gilt umgekehrt – der Bleistift führt Sie?
Meine Schwester konnte sehr gut zeichnen, auch gegenständlich. Ich wollte wissen, wie das geht. Ich sehe das heute noch vor mir, wie sie mir das beigebracht hat mit der Iris, mit den Wimpern und so. Bis heute beherrsche ich das nicht perfekt, das muss auch nicht sein. Aber fast immer beginne ich damit, dass ich ein Auge zeichne.
Das Auge lenkt Sie. Alles kreist um das Auge in irgendeiner Form. Aber warum, wissen Sie nicht?
Nein. Alles hat immer mit einem Gesicht zu tun, mit einem Portrait. Aber dann kommen auch Landschaften ins Spiel. Während eines Klinikaufenthaltes habe ich viel gezeichnet, denn das war in der Therapie mit das Wichtigste: dass die Leute etwas mit ihren Händen machen. Nichts drückt mehr aus. Im Gespräch kann man sich immer verstellen. Was man dagegen mit seinen Händen herstellt, lässt sich weniger kontrollieren. Das geht nicht. Deshalb ist das manuelle Tun in der Psychologie ein ganz wichtiger Aspekt – als Ausdruck der Selbstfindung, der Fragestellung oder ganz einfach der Erklärung dessen, was man mit den Händen produziert. Egal, ob es sich dabei um eine Tonarbeit handelt oder um Papier.
Das Unbewusste gibt sich eine Gestalt.
Ja, deshalb nahm die Gesprächstherapie auch mehr Raum ein als die Sporttherapie. Man wollte einfach wissen, was ein Mensch von sich erzählt, während er auf das Ergebnis seiner Hände schaut.
Werden die Zeichnungen denn analysiert?
Nicht wirklich. Es kommt mehr darauf, dass man darüber ins Reden kommt.
Aber wie soll man das erklären, wenn einen der Zeichenstift führt? Folgt er denn eher einem Gefühl als dem Kopf?
Gefühlsmäßig hat das Zeichnen auch etwas mit meiner choreografischen Arbeit zu tun, weil da schon eine Bewegung drin ist. Und etwas Skulpturales, was ich ja auch habe. Trotzdem bilde ich auf den Zeichnungen natürlich nicht den Körper in seiner Schönheit ab.
Und Sie zeichnen nicht, um damit andere Leute zu unterhalten und Ihre Werke zu verkaufen. Sie zeichnen zunächst nur für sich.
Immer für mich. Ich habe Skrupel, meine Zeichnungen zu zeigen. Es wäre ja auch vermessen, sie als großartig zu empfinden. Undenkbar. Die Angst, die ich dabei empfinde, hat noch etwas Kindliches. Ich bin zwar auch in meiner choreografischen Arbeit immer noch etwas ängstlich, nach vierzehn Jahren aber schon eine Spur ausgebuffter. Damit kann ich schon anders spielen, manipulieren – besser jedenfalls als im Zeichnen. Aber die Reaktionen auf die Zeichnungen sind für mich ebenso verwunderlich wie die auf meine Choreografien, wenn Außenstehende darüber erschrecken oder schlecht davon träumen. Da bin ich immer wieder baff und denke: Muss ich mir jetzt Sorgen um mich machen? Oder was für Probleme haben die eigentlich? Sicher, auch die Zeichnungen sind eine düstere Angelegenheit. Aber es fällt mir gar nicht weiter auf, weil ich darin vielleicht lebe, ohne dass mich das wirklich bedroht.
Schwarz sind ihre Zeichnungen jedenfalls immer.
Die Farbe habe ich noch nicht für mich entdeckt, und ich verwende immer einen Bleistift. Es ist auch schön, in unserer heutigen Zeit etwas mit einem Stift zu tun. Ein Bleistift ist eigentlich nichts und dann doch so viel. Auch meine Notizen für die Stücke mache ich alle handschriftlich in mein Notizbuch. Das hat noch was ganz Direktes.
Sie machen sich noch Notizen?
Kleinigkeiten. Und später, wenn das Stück Form gewinnt, geht das auch wie bei den Zeichnungen in alle Richtungen. So in etwa: Es wäre ja schön, wenn ich dies und das machen könnte, wäre ja schön, wenn der oder jener dazu käme… Ich muss mir das alles aufschreiben. Das wird dann ganz viel. Ähnlich wie die vielen kleinen Striche einer Zeichnung. Einen Strich zu setzen in der Art, wie ich zeichne, ist natürlich eine andere Entscheidung als die, einen Schritt in einem Stück zu machen. Den kann ich ja wieder ändern, und das tue ich auch. Nicht aber in den Zeichnungen.
Einen Radierer verwenden Sie nicht?
Den hat mir mein Kunstlehrer verboten. Er war auf der Schule mein wichtigster Lehrer. Der einzige, mit dem ich etwas anfangen konnte: Udo Meyer, ein bekannter Wuppertaler Bildhauer.
Er hat sich mit Ihnen auseinandergesetzt?
Weil ich rebellisch war, bin ich auch ihm auf dem Kopf rumgetanzt, aber er hat schon was in mir gesehen. Er war meine Insel, weil ich auch so ein Picasso-Fan war. Auch hier in Stuttgart gehe ich manchmal in die Staatsgalerie, um mir einfach mal wieder einen Picasso anzuschauen. Er hat mit meinem Leben viel zu tun.
Hätten Sie auch Zeichner werden können?
Ja, und ich bin das ja auch phasenweise. Allerdings nicht, wenn ich an einem Stück arbeite. Neulich habe ich es mal wieder probiert, und es ging gar nicht. Vielleicht ist das ein Gefühl: Manchmal fängt der Stift plötzlich zu leben an, und manchmal eben nicht.
Das Wollen bringt nichts. Nur das Müssen.
Genau. Ich glaube nicht, dass ich auf Bestellung was machen könnte. Ich hab’s ein paar Mal probiert und gedacht: okay, es liegt am Bleistift, vielleicht habe ich einen falschen gewählt. Denn ich habe Stifte in verschiedenen Stärken, ganz dunkle, ganz leichte. Aber irgendwie kam ich da nicht rein. Es ist eben doch ein Krater, der so entsteht. Manchmal ist das alles richtiggehend da – Gesichter, Striche, Muster. Und manchmal eben gar nicht. Beim Choreografieren ist das nicht viel anders.
Denn da müssen Sie.
Das ist der große Unterschied. Ich muss etwas zu Ende bringen. Jirí Kylián hat einmal zu mir gesagt: Wenn Du so viel arbeitest wie in den letzten Jahren… Du musst mal wieder Wollen und nicht Müssen. Das sind zwei ganz unterschiedliche Sachen. Aber in dem Müssen finde ich ja auch ein Vergnügen, manchmal an einer winzigen Stelle im Stück. Bei «On Velvet» zum Beispiel, das für das Stuttgarter Ballett zuletzt entstanden ist, gibt es zwei, drei winzige Momente, für die es sich für mich gelohnt hat. Wenn die Zuschauer wüssten, was ich mag, sie würden es vielleicht nicht mal bemerken. Der Rest ist…
Show…
oder Choreografie. Nichts Negatives also. Aber ich warte eben auf die zwei, drei Gesten, nach denen ich gesucht habe. Die sind so winzig, dass man sie als Ballett oder als Stück Kunst nicht verkaufen könnte. Spannend, wie klein das manchmal ist. Selbst wenn ich muss, finden sich immer solche Momente… Klar, ich habe den Druck, möchte, dass das Werk ankommt – wobei ich mir nicht sicher bin, ob dass das rechte Wort ist: Ankommen.
Bei den Tänzern muss es jedenfalls ankommen.
Klar. Aber auch in dem Müssen kann ich immer etwas finden, was mir wichtig ist. Wenn man als Künstler bei einer Galerie unter Vertrag ist, muss man seine Werke ebenfalls zu einem gewissen Zeitpunkt abliefern, weil eine Ausstellung geplant ist. Aber ich bin nicht so weit, so was mal zu probieren. In einem halben Jahr siebzig Zeichnungen zum Thema «Der Mond geht auf» abliefern zu müssen, wäre sicher ganz spannend. Ich bin ja nicht übermäßig ehrgeizig – weder im Zeichnen noch im Choreografieren.
Setzen Sie sich ein Thema beim Zeichnen? Zumindest in einem Fall haben Sie es getan.
Sie meinen das Bild von Robert Robinson, dem Tänzer? Das liebe ich sehr, auch wenn es ihm nur bedingt ähnlich sieht. Ich bin mit ihm in einem Café gesessen und wollte mal versuchen, eine Situation so abzubilden, wie sie war.
Sie haben das an Ort und Stelle gezeichnet?
Nein, das geht schon des großen Formats wegen nicht. Ich habe es zu Hause aus der Erinnerung heraus getan – an den Turnschuh, an den Reißverschluss meiner Jacke, eine Tasse. Einfach Dinge. Die Zeichnung hat wenig mit den anderen zu tun, sie ist realistischer, eine andere Art von Selbstsuche oder Schichtung.
Es gibt Bilder, die mich an Francis Bacon erinnern.
Das sagen viele. Der ist aber knubbeliger, Bacon hat eine andere Art von Clownerie. Ich finde sie sehr organisch, ja rund. Aber es gibt bei ihm auch diese Einschüsse, diese Zersplitterungen im Kopf. Bei mir ist das alles doch etwas kantiger. Felliger von der Struktur her. Irgendwie hatte ich auch hier etwas von Angezogensein im Kopf, mit einer Fliege oder einem Pelzkragen.
Auf einem Bild findet sich ein Nest samt Vogel.
Ich hatte noch nie so gegenständlich ein Nest gezeichnet und dachte: Probier’s mal. Auch in meiner Arbeit als Choreograf gibt es immer einen Punkt von Heimeligkeit, von etwas Süßem auch, was mir ganz wichtig ist. Ein Stück muss immer etwas nicht-charmant Süßes drin haben.
Ein anderes Bild hat etwas Kantiges, Holziges. Es zeigt einen Tisch…
… einen Körper und Beine. Ich arbeite immer im Sitzen am Boden und habe von dort auf die Tischbeine gesehen. Das hatte etwas Tänzerisches. Es erinnerte mich ein bisschen an meine Begeisterung als junger Mensch für Hans-Arp-Skulpturen. Interessant, wie sich alles niederschlägt, was man mal irgendwann aufgenommen hat.
Die Zeichnungen wirken groß.
Sie sind gut einen Meter groß, etwas länglich und auf einen Karton gezeichnet, der etwas Hautfarbenes hat. Also nicht so schneeweiß, wie man das als Kind gewöhnt ist. Ich habe noch viele Zeichnungen von damals zu Hause. Irgendwann durfte ich als Schüler mit meinen Bildern, darunter Aquarelle von einer großen Farbigkeit, das Direktorenzimmer und den Flur meiner Wuppertaler Schule bestücken. Und alle waren begeistert. Ob sie noch immer dort hängen?
Amateurhaft darf das Ergebnis nicht auf Sie wirken?
Auf keinen Fall. Das tut es auch nicht. Aber ich hatte keine richtige Profi-Ausbildung, sondern nur den Kunstunterricht an der Schule – und das das Auge meiner Schwester. Wen ich als Künstler sehr verehre, ist Marc Brandenburg. Er macht Negativ-Zeichnungen. Etwas Vergleichbares mit gleicher Konsequenz zu bewerkstelligen, würde viel Hingabe und auch Arbeit von mir verlangen.
Und das schließt sich für Sie derzeit aus.
Ja. Aber es ist manchmal ein Bedürfnis und deshalb auch ein Teil meiner Kunst.
Das Schreiben gehört nicht mehr dazu.
Nicht mehr so. Eine Zeitlang war das für mich sehr wichtig. Davon übrig geblieben sind nur noch die Notizen, die ich mir während der Arbeit mache. Aber ich habe unzählige Tagebücher geschrieben, kleine Geschichten, Gedichte. Ich finde es schön, wie diese verschiedenen Arten benutzt werden können, etwas sichtbar oder erfühlbar zu machen.
Dabei haben Sie eigentlich ja keine Kommunikationsprobleme.Nein. Sprache ist für mich immer wichtig, um mich zu erklären, um mit Menschen in Kontakt zu kommen. Ich bin kein verschlossener Choreograf, der sich nur über den Tanz äußert. Ich spreche gerne und auch viel. Sprache ist für mich ein wichtiges Medium, um mich verständlich zu machen.
Aber das tun Sie immer auf eine ganz spezielle Art, die sich durch ein anderes Medium nicht unbedingt erklären lässt. Wie für Ihre Zeichnungen lassen sich auch für Ihre Choreografien nur bedingt die passenden Worte finden.
(03.03.2014)