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Marco Goecke kreiert in Berlin

Arbeitsspannung liegt in der Luft, trotzdem ist die Atmosphäre erstaunlich gelöst. Im Theatersaal, dem größten Probenraum an der Staatlichen Ballettschule Berlin, entwickelt Marco Goecke mit Studentinnen und Studenten eine neue Choreografie. Das ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen, weil Goecke nicht ein bestehendes Werk seines großen Repertoires einfach überträgt, sondern sich dem Risiko einer Kreation stellt.

Den Klassenstufen 7 bis 9 entstammen „seine“ Tänzer, sind zwischen 17 und 19 Jahren jung – und mit Goeckes Handschrift noch nicht vertraut. Zum anderen, weil „nur“ ein Duett verabredet war, die Mitstudierer jedoch so eifrig und überzeugend mitgezogen haben, dass Goecke und die Schulleitung gemeinsam entschieden haben: Alle 16 kommen auf die Bühne – in einer Choreografie für Gruppe und Soli.

Leis gibt Goecke seine Anweisungen, die ein gemeinschaftliches Herausfinden sind. „Was passiert, wenn du den Arm so oder so führst?“, fragt er, steht dabei ganz nah am Tänzer, und bald ist die stimmige Form fixiert. In welch rasantem Tempo sie letztlich ausgeführt wird, kennzeichnet Goeckes Personalstil. Für die zuckenden, gewinkelten, in Fuß und/oder Arm geflexten Bewegungen, mit hochgezogenen Schultern, zitternden oder gekrallten Händen und wieselflinken Kopfneigungen, gibt er den Studenten Bilder zum Verständnis: „Das muss so überraschend kommen wie im Adlon, wenn sie eine Orange zerlegen: zackzack, fällt sie auseinander! – Kein Schleim, alles bleibt strikt! Nichts verschleifen – wir sind nicht in der Jazztanzschule Daniela Glück! – Die Bewegung größer, du bist doch keine Maus! Kontrolle behalten, nichts wegfliegen lassen! – Alles muss auch ein bisschen Humor haben!“ Bisweilen gerät er während der Arbeit ins Philosophieren: „Choreografie existiert nur, wenn man sie macht, man kann sie nicht denken.“ Und: „Was man auf der Bühne zeigt, tut den Leuten immer noch weh, im Film ist eine Zelluloidwand dazwischen.“ Oder er fragt teilnehmend, wie früh ein Mädchen aufsteht („Winkst du da dem Zeitungsausträger zu?“), ob alle Marlene kennen, ihren Nachlass im Filmmuseum besichtigt haben, oder Angst vor Ebola fühlen. „Sehr gut, Junge!“, lobt er, als Tommaso sich fast die Seele aus dem Leib gewrungen hat.

Bei den Studenten kommt das bestens an. „Hier geht es mehr um Arme als um Beine“, meint Alicia, sieht ihr Duett mit David, wenn die Köpfe sich tierhaft schmiegen, als Dialog, in den sie persönliche Erfahrungen einfließen lässt – welche, bleibt ihr Geheimnis. „Während ich im Solo der Starke bin, führe ich im Duo die Bewegungen für sie aus“, bekennt David aus Barcelona, der über ein Stipendium des Festivals TANZOLYMP an die Schule gekommen ist. Auch für Katherina sei diese Bewegungssprache komplett neu und eine tolle Erfahrung: „Man hebt etwas auf und wirft es gleich wieder weg, setzt viel den Ellbogen ein und muss Emotionen über den Körper und die Muskeln ausdrücken.“ Begleitet wird das noch titellose Stück von Niccolò Paganinis virtuosen Violinkapriolen; geprobt wird indes immer wieder mal zu Songs von Nina Simone, „Ne me quitte pas“ beispielsweise, gar nicht lustig im Inhalt. Daraufhin angesprochen, antwortet Goecke so ernst wie ehrlich. Er gehe ins Studio, um weniger Angst zu haben, verwandle sie in Schönheit als eine Hoffnung: „Deswegen arbeiten wir.“ Der Lebensalltag sei anstrengend und lästig, im Studio zelebriere man was gegen den Tod. „Wir sind unwichtig, und trotzdem versuchen wir zu zaubern ohne Tricks, und wenn wir nur ein paar Funzeln hinterlassen.“ Wenn während der Arbeit Spannung aus jeder Pore quillt, dann befreie das ihn und den Tänzer.

Es koste natürlich mehr Kraft, mit Studenten zu proben, und er gehe bis an ihre Grenzen und spiele dafür auch den Clown, will ihnen den Eindruck geben, etwas Wichtiges zu tun. Die Probe beginnt er meist unvorbereitet, stelle sich auf die Verfassung der Tänzer ein, wecke ihre Präsenz: „Das gibt mir etwas wie bei einem Tauschgeschäft, einer temporären Liebesbeziehung.“ Und: „Ich hoffe, wir spüren uns auf der gemeinsamen Reise in unseren Emotionen.“ Was er mitteilen will, verstehe er erst kurz nach der Mitte des Stücks, gesteht er: „Ich bin kein Konstrukteur, baue aus dem Moment – wie bei einem Seiltanz.“ Oft steht ein Solo am Ende, und das sei dann er, ganz allein mit sich. Tag und Nacht fühle er sich unter Druck, das belaste ihn. Zum Glück habe er ein System aus kleinen Bewegungen, eine Art Technik, das helfe auch über Einfallslücken hinweg. Goecke sagt den Studenten ohne Umschweife, er sei müde: „Ich bin auch nur ein Mensch.“ Das können Tänzer sehr gut nachfühlen.

Goeckes direkt auf sein Gegenüber bezogene Art des Umgangs mit den Studenten entspricht den Intentionen von Gregor Seyffert, früher Absolvent, jetzt Künstlerischer Leiter der Staatlichen Ballettschule: „Wir sind ja keine rein klassisch orientierte Schule. Klassisch bleibt aber die beste Basis für viele andere Techniken.“ Nicht jeder Absolvent müsse später auch Klassisch tanzen, bekomme aber Rüstzeug für seinen speziellen Weg mit, ob im Theater, im Friedrichstadtpalast, in der Freien Szene. Waganowa habe schließlich ihre Methode mehr als Angebot für die permanente Evaluation verstanden. So habe sich im Lauf der Jahre die Vermittlung gravierend geändert. Worauf es ankomme: „Jeden Tag muss man an seiner Technik arbeiten, doch mit Spaß und angstfrei.“ Goecke für eine Neueinstudierung gewonnen zu haben, sieht Seyffert als großen Gewinn für die Studenten, „weil sie, wie danach im Berufsleben, aktiv an einem Prozess teilhaben.“ Dass man dabei Überraschungen erlebt, wenn jemand in der ungewohnten choreografischen Handschrift aufblüht, das gehöre zu den Glücksmomenten. Goecke habe sich seine „Farben“ unter den Studenten herausgesucht und bediene sie nun auch mit solistischen Aufgaben. Premiere wird bei der Schulgala am 17. Juli 2015 im Schiller Theater sein, zusammen mit drei weiteren Stücken: „Sechs Tänze“ von Jiří Kylián, „Madrigal“ von Nacho Duato und dem schuleigenen „Bolero“. Vielfältiger kann Tanz kaum sein.

Text: Volkmar Draeger

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(09.11.2014)

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