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Marco Goecke choreographiert Pierrot Lunaire

Premiere beim Scapino Ballet in Rotterdam am 11. Februar 2010

Foto: Hans Gerritsen

„Die Farbe bedeutet alles“

Seit dem ersten Hören vor mehreren Jahren begeistert sich Marco Goecke für Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire. Die anfängliche Befangenheit, sich mit der berühmten Interpretation des Choreographen Glen Tetley aus dem Jahr 1962, einer Mischung aus Ballett und Modern Dance, messen zu müssen, hat Goecke im Sommer 2009 hinter sich gelassen. Dass seine im Juli in Monte Carlo uraufgeführte Neuinterpretation von „Spectre de la Rose“, dem ‚Heiligtum’ von Mikhail Fokine, ein außerordentlicher Erfolg wurde – Le Monde schrieb „ce Spectre impose un point de vue intrigant sur le corps et le mouvement; Goecke, 37 ans, est à suivre” –, hat ihn ermutigt, auch ein Werk wie Pierrot Lunaire anzugehen.

Es kommt hinzu, dass sich gerade das Scapino-Ballet bestens für die Arbeit an einem neuen „Pierrot“ eignet. Denn zum einen sind die Rotterdamer Tänzer bestens mit Goeckes Bewegungssprache vertraut und zum anderen geht der Name „Scapino“ ebenso auf die Commedia dell’Arte zurück wie die Figur des Pierrot. Auch wenn die Commedia, das italienische Improvisationstheater des 16.-18. Jahrhunderts, heute nicht mehr besteht, haben viele ihrer Figuren bis heute überlebt, etwa in der Oper „I Pagliacci“ von Ruggiero Leoncavallo oder im Tanz mit George Balanchines Pulcinella zur Musik von Igor Strawinsky.

Die Figur des Pierrot, in Goeckes Interpretation getanzt von Rupert Tokey, ist die eines traurigen Clowns, verliebt in das Kammermädchen Columbine; ein armer Narr, der als abwesend und realitätsfremd charakterisiert wird, was auch mit seiner Neigung zum Mond zusammenhängt. Diese Eigenschaft, seine Mondsucht, englisch „lunacy“, ist das zentrale Motiv in der Neubearbeitung der Figur durch den Dichter Albert Giraud, dessen aus 21 Gedichten bestehender Zyklus „Pierrot Lunaire“ (1884) Arnold Schönberg als Grundlage seiner atonalen Komposition diente. Schönberg verwendete allerdings nicht das französische Original, sondern die ausgezeichnete deutsche Übersetzung von Otto Erich Hartleben. Der Zyklus ist in drei Teile zu sieben Liedern unterteilt. Pierrot unternimmt – „mondestrunken“ – einen Spaziergang und durchlebt in seinem völlig vom Mond vereinnahmten Zustand verschiedene Fantasien: im ersten Teil über Liebe, Eros und Religion. Der zweite, wesentlich düsterere Teil, der auch als Pierrots Albtraum beschrieben wird, thematisiert Gewalt, Verbrechen und Blasphemie. Der dritte Teil befasst sich mit der Rückkehr Pierrots in seine Heimat, ist eine Reflexion über seine Vergangenheit und den Einfluss, den der Mond auf ihn hat. Die Texte der drei Mal sieben Melodramen repräsentieren die ästhetische Position des Fin de siécle, zwischen Jugendstil, Décadence und Symbolismus.

Fast hundert Jahre nach der Uraufführung von Schönbergs Werk, 1912 in Berlin, betritt Marco Goecke den Ballettsaal in der Rotterdamer Eendrachtsstraat mit den Worten „Ik ben de Clown Scapiiino“ und schaltet den CD-Player ein. Der Sprechgesang erklingt: „Die weißen Wunderrosen blühn in den Julinächten – O bräch ich eine nur!“ Goecke korrigiert Rupert Tokey und bittet: “Please be so precise in this movement that I get goose bumps.“ Spannung erfüllt den Raum. Als einige Minuten später die Stimme singt “Eine blasse Wäscherin wäscht zur Nachtzeit weiße Tücher“, stehen sich Rupert Tokey und Ralitza Malehounova gegenüber. Zu ihrem „Pas de Deux“ sagt Goecke: „I don’t want that you ever meet. It stays cold and hopeless“. Wie aus dem Nichts gelingt es ihm, eine Atmosphäre der Kälte zu schaffen, die sich über den Saal legt. Es wird ein Pas de Deux, ein „Tanz zu zweit“, in dem die beiden Partner nicht zusammenkommen: Goecke liebt Widersprüche. Vielleicht auch deswegen seine Affinität Arnold Schönbergs „Pierrot“, das in vielerlei Hinsicht widersprüchlich ist: Pierrot, der Narr, ist gleichzeitig der Held; die Instrumentalisten sind gleichzeitig Solisten; das Werk wird gesprochen, aber auch gesungen; die männliche Rolle wird von einer Frau interpretiert; es gibt Perspektivwechsel von der ersten zur dritten Person; das Stück ist sowohl ein dramatischer Monolog als auch ein Musikstück, es ist eine Art Kabarett, aber eben auch hohe Kunst.

Schönberg, für den der Begriff der „Klangfarbe“ große Bedeutung hatte, schrieb über seinen „Pierrot“, dass hier „die Farbe alles, die Noten gar nichts bedeuten“. Ähnliches gilt auch für Goeckes choreographischen Stil: Er erzeugt Stimmungen auf ganz andere Weise, als es im klassischen Ballett geschieht. Bei Goecke gibt es keinen festgelegten Kanon von Tanzfiguren und keine konventionellen pantomimischen Gesten, sondern immer wieder neu erfundene, meist rasche Bewegungsabläufe. Auch hier könnte man sagen, dass die einzelnen Schritte nichts, aber die durch viele Einzelbewegungen geschaffene Atmosphäre, die Farbe, alles bedeutet.

Nadja Kadel

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(29.12.2009)

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