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Die Reihe der Ballette zur Musik von Gustav Mahler ist lang. Eines der ersten war „Dark Elegies“, das Anthony Tudor 1937 zu den „Kindertotenliedern“ erarbeitete. 1965 choreographierte Kenneth McMillan in Stuttgart „Das Lied von der Erde“. 1975 schuf John Neumeier, der zehn Jahre zuvor noch McMillans Stück selbst getanzt hatte, mit der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ sein erstes abendfüllendes sinfonisches Ballett und leitete damit die lange Reihe seiner Mahlerballette ein. Maurice Béjart setzte sich in mehreren Arbeiten mit Mahlers Musik auseinander, Roland Petit schuf 1973 „La Rose Malade“ zum vierten Satz aus Mahlers Fünfter Sinfonie – dem berühmten „Adagietto“, das auch Marco Goecke für seine Arbeit in Wien ausgewählt hat. Zuletzt kreierte Martin Schläpfer in Wien „4“ zu Mahlers Vierter Sinfonie: ein abendfüllendes sinfonisches Ballett für alle Tänzerinnen und Tänzer seiner Kompanie.
Marco Goecke hat für seine Neuinterpretation des zweiten und vierten Satzes von Mahlers Fünfter Sinfonie eine kleinere Besetzung von sieben Tänzern und fünf Tänzerinnen ausgewählt, die Thomas Mika in leicht transparente schwarze Anzüge kleidet. Darunter tragen sie enge, hautfarbene Trikots, die mit grauen Flecken und Streifen versehen sind, welche die Glattheit des Körpers unterbrechen und Spuren andeuten, vielleicht Narben, vielleicht Gefieder.
Ein Tänzer eröffnet das Stück mit einem Solo. Wer mit Goeckes Bewegungssprache vertraut ist, erkennt sofort die für ihn typische Konzentration auf den Oberkörper: blitzschnelle, höchst präzise Armbewegungen, die durch mehrere Wiederholungen manchmal fast flatternd wirken. Es scheint, als konkurriere der Tänzer mit der stürmisch bewegten Musik. Eine Tänzerin kommt kurz hinzu, später eine zweite Tänzerin. Es entsteht ein Pas de Deux, in dem sich beide Partner mit äußerst raschen Griffen und auf die vielfältigste Weise umarmen, umklammern, loslassen, neu umklammern.
Die Heftigkeit, mit der Mahler seinen zweiten Satz beginnt, wird in der Folge von einer ruhigen, mehr nach innen gekehrten Episode abgelöst, die auf den ersten Satz verweist. Die beiden Stimmungen sind sehr unterschiedlich und spiegeln eine Doppelstruktur wider, welche die ganze Sinfonie charakterisiert: Die beiden ersten Sätze heben sich deutlich vom dritten, vierten und fünften Satz ab.
Am Ende des zweiten Satzes herrscht Stille. Eine Tänzerin rezitiert laut flüsternd wenige Verse aus dem Gedicht „Mein Vogel“ von Ingeborg Bachmann. Die ganze Gruppe kommt hinzu. Da setzt der vierte Satz, das Adagietto, ein. Was Marco Goecke zu dieser Musik choreografiert, unterscheidet sich deutlich von den bisher existierenden Bearbeitungen des Adagietto für den Tanz. Er beginnt mit dem Solo eines Tänzers auf dem Boden. Der nach innen lauschende, sich langsam steigernde Dialog zwischen Harfen und Streichern scheint die vorher geflüsterten Bachmann-Verse aufzugreifen: „Was auch geschieht: du weißt deine Zeit, mein Vogel, nimmst deinen Schleier und fliegst durch den Nebel zu mir.“
Für Goecke ist auch die geschriebene oder gesprochene Sprache, insbesondere das poetisch verdichtete Wort, ein Ausdrucksmittel, das ihm neben dem Tanz viel bedeutet. Mahlers Streichermelodie, die sich ins Unendliche fortspinnen könnte und der man unendlich lang zuhören möchte, verlockt ihn dazu, sie mit den schwebenden Geschöpfen der Lüfte in Verbindung zu bringen. Thomas Mikas Bühnenbild und Kostüme lenken den Blick behutsam auf diese Welt des Ätherischen. Vermittelt wird diese Verbindung durch Bachmanns Wort. Der Vogel ist bei ihr eine Eule, deren Feder es der Dichterin ermöglicht, das rettende Wort zu schreiben. „So wie die Eule stellt sich auch das Wort zur rechten Zeit ein, durchdringt den Nebel, folgt dem Wink, stößt hinaus und schwingt sich am Ende zur höheren Warte empor. Ingeborg Bachmann vertraut auf das Wort: Es steht ihr bei und raubt sie zugleich aus, es verschleiert und entlarvt, es wirbelt auf und besänftigt, ist sowohl durchsichtig als auch geheimnisvoll, dieses Wort auf Treu und Glauben!“ So formulierte der Schriftsteller Ludwig Harig 1994 in seiner Deutung des Gedichts.
Es ist das hier verborgene Paradox der Zeitlichkeit – das rettende Wort zur rechten Zeit als Schlüssel zur Unendlichkeit, die Hoffnung auf den rechten Moment neben der Furcht vor der Zeit, die unser Dasein frisst –, das Goecke interessiert. Er verwandelt, getragen von Mahlers Klängen, die Allegorie der Feder als „Waffe“, die bei der Suche nach dem Wort zur rechten Zeit dienlich ist, in eine Suche nach der rechten Bewegung, dem rettenden Schritt im richtigen Moment.
Nadja Kadel
Daten
14.11.2021 Wiener Staatsballett
05.10.2023 Tschechisches Nationalballett Prag
Fotos
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